L. I. Hansen u.a.: Samenes historie fram til 1750

Cover
Titel
Samenes historie. fram til 1750


Autor(en)
Hansen, Lars Ivar; Olsen, Bjørnar
Erschienen
Oslo 2022: Cappelen Damm
Preis
NOK 599,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Kirschstein, Internationales Graduiertenkolleg "Baltic Peripeties. Narratives of Reformations, Revolutions and Catastrophes", Historisches Institut, Universität Greifswald

„Die Geschichte der Sámi kann in vielerlei Hinsicht als Kritik an Vorstellungen von abgegrenzten und reinen Kulturen verstanden werden“ (S. 19). Dieser Gedanke zieht sich durch Samenes historie fram til 1750 [Geschichte der Sámi bis 1750], erschienen in einer zweiten, überarbeiteten Ausgabe kurz nach der Veröffentlichung des jüngeren Nachfolgebandes Samenes historie fra 1751 til 2010 [Geschichte der Sámi von 1751 bis 2020].1

Die Sichtbarmachung indigener Perspektiven ist ein Anliegen der historischen Forschung in Nordeuropa spätestens seit den politischen Umbrüchen der 1970er- und 1980er-Jahre, in denen Sámi3 verstärkt für ihre Rechte als ethnische Minderheit eintraten. Dies führte unter anderem dazu, dass Norwegen die ILO-Konvention 169 ratifizierte (1990) und nationale Sámi-Parlamente in Finnland (1973), Norwegen (1989) und Schweden (1993) gegründet wurden. Hansen und Olsen formulierten dies in der ersten Ausgabe des Bandes von 2004 auch als eine zentrale Aufgabe ihrer Publikation, die an Aktualität nichts eingebüßt hat.2 Es gelingt ihnen unter anderem, die Behauptung zu widerlegen, dass Sámi historisch nur in einem kleinen geografischen Gebiet gesiedelt hätten – eine Debatte, die in jüngerer Zeit durch Fragen der Landnutzung zunehmend an Brisanz gewonnen hat. Die Sichtbarmachung einer genuin sámischen Perspektive beginnt bereits mit der Karte auf der ersten Doppelseite: Gezeichnet 1975 von dem aus Narvik stammenden sámischen Künstler Hans Ragnar Mathisen/Keviselie (geboren 1945), zeigt sie Nordeuropa und das arktische Meer mit sámischen Toponymen. Darüber hinaus wurden mythologische Elemente und Zeichnungen einiger Gegenstände des Kunsthandwerks (duodji) in die Karte integriert. Auf einen Blick wird hier aufgezeigt, dass ein sámisches Weltbild weit über ein eingeschränktes geografisches Siedlungsgebiet hinausreicht. Die Karte macht unmittelbar sichtbar, dass Sámi historisch eng vernetzt sind mit benachbarten Regionen und Bevölkerungsgruppen. Zu Beginn jedes Kapitels und auf der letzten Doppelseite sind ausgewählte Kunstwerke von Mathisen abgebildet, der somit zur künstlerischen Gestaltung des Bandes wesentlich beigetragen hat.

Die fachlichen Leistungen von Hansen und Olsen in der ersten Ausgabe von 2004, die in enger Zusammenarbeit mit Henry Minde entstand, stellten bei ihrem Erscheinen einen wichtigen Schritt für ein besseres Verständnis der sámischen Vergangenheit dar. Im Vergleich dazu erweitert und aktualisiert die neue Ausgabe das zuvor bereits sehr umfangreiche Literaturverzeichnis um die neueste Forschung, auch wenn darauf im Text nicht näher eingegangen wird. Zudem wurden etliche Fotos und Karten ergänzt, die das Leseverständnis erleichtern. Die zweite Auflage nutzt weiterhin Literaturverweise innerhalb des Fließtextes; hier wäre eine gestalterische Anpassung an den Nachfolgeband durch die Verwendung von Fußnoten möglich gewesen, um den Lesefluss weiter zu verbessern.

Der Band ist überwiegend chronologisch aufgebaut. Die insgesamt sechs Kapitel werden durch zwölf Textkästen („bokser“) aufgelockert, die zusätzliche Informationen oder Exkurse etwa zu Bärenjagden, Heiligen Orten und Riten enthalten. In der Einleitung wird die Forschungsgeschichte skizziert und herausgestellt, dass bis in die 1970er-Jahre sámische Geschichte in den nationalen Geschichtsschreibungen in Nordeuropa durch einen Fokus auf die jeweiligen Mehrheitsbevölkerungen fast unsichtbar gemacht wurde. Hansen und Olsen verweisen kurz auf den Konflikt um den Dammbau am Fluss Altaelva und auf die Gründung der Universitäten Umeå (1965), Tromsø (1972) und Rovaniemi (1979) als wichtige Faktoren im erstarkenden Interesse an sámischer Geschichte und Kultur.

Im zweiten Kapitel wird die Entwicklung einer sámischen Ethnizität besprochen, soweit dies früheste archäologische Quellen und linguistische Forschungen ermöglichen. Zudem werden die historisch wandelbaren Vorstellungen von Ethnizität erläutert. Die Festigung des Sámischen bis ins frühe Mittelalter wird in Kapitel drei nachverfolgt. Dabei dienen Grablegungen und Opferstätten als wichtige Indizien dafür, dass in dieser Phase ein kultureller Code entwickelt wurde, der nach innen und außen die eigene Zugehörigkeit signalisieren sollte. Hansen und Olsen verweisen hier auf Kontakte und Handelsnetzwerke mit benachbarten Gesellschaften, die einen externen ökonomischen Druck auf sámische Gemeinschaften ausübten und ein Interesse an speziellen Produkten, insbesondere Pelzen, hatten. Auch interne Konflikte durch soziale und ökonomische Ungleichgewichte und die ersten Formen der Rentierhaltung werden aufgezeigt.

Diese Tendenzen, so die Argumentation in Kapitel vier, verstärkten sich im Laufe des Mittelalters, als die Beziehungen zwischen den Sámi und ihren Nachbarkulturen unter weiteren Druck gerieten. Die Nutzung und Besiedlung von sámischen Landgebieten, die Verstärkung der Handelsabhängigkeiten und das Erstarken des Christentums trugen wesentlich dazu bei. Durch Tribute an und politische Abhängigkeiten von den norwegischen und schwedischen Königreichen sowie Novgorod im Osten wurden erste kolonialisierende Mechanismen etabliert. Ausführlich besprochen werden zudem die vielfältigen Gründe, Phasen und regionalen Unterschiede in der parallelen Entwicklung der Rentierhaltung, die langsam den Fang wilder Tiere ablöste und in den folgenden Jahrhunderten zu einem vorherrschenden externen Definitionsmerkmal sámischer Kultur und Lebensweise wurde.

Die Etablierung früher Staaten mit Machtansprüchen bis in die nördlichsten Gebiete führte zu einer Intensivierung und Institutionalisierung asymmetrischer Abhängigkeiten, die im fünften Kapitel diskutiert werden. Kirche, König und Steuern wurden nach 1550 zu den größten externen Faktoren, die neue Gesetze und Einschränkungen mit sich brachten und auch grundlegende soziale Werte langfristig infrage stellten. Politisch und wirtschaftlich steht diese Phase im Spannungsfeld zwischen Integration und Ausgrenzung. Hansen und Olsen gelingt es, die Unterschiede in den Regulierungsmechanismen und Handelsstrategien in den norwegischen, schwedischen und russischen Gebieten trotz aller Komplexität übersichtlich aufzuzeigen. Sehr hilfreich ist hierbei auch die Integration von 11 der insgesamt 27 Karten des Bandes, die die inhaltliche Darstellung sinnvoll unterstützen. Letztlich führten die Grenzkonflikte zwischen dem dänisch-norwegischen und dem schwedischen Königreich seit 1590 und bis zum Großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721, so die Autoren, zu territorialen Spaltungen ungeachtet sámischer Rechte und Lebensweisen. Durch das sogenannte Lappen-Codicill von 1751 wurden zumindest die regelmäßigen Grenzübergänge der Rentierherden zugelassen, was den langfristigen Austausch zwischen Sámi über die Grenzen der konsolidierten Staatsgebiete erleichterte.

Das abschließende Kapitel sechs behandelt religiöse Vorstellungen der Sámi und fasst viele Punkte zusammen, die bereits in den vorherigen Kapiteln angesprochen wurden. Des Weiteren wird eine historische Übersicht über christliche Missionsbestrebungen und die Integration christlicher Motive ins sámische Weltbild gegeben. Das Buch schließt mit einer sehr informativen Zusammenfassung der wichtigsten Eigenschaften sámischer Religion, Kosmologie, Schamanismus und Riten. In Kontinuität zu den vorhergehenden Kapiteln wird auch hier Komplexität einfachen Antworten vorgezogen und die Kontakte und Konflikte der sámischen und christlichen Religionen in ihren sozialen Funktionen eingeordnet.

Samenes historie fram til 1750 wurde laut Hansen und Olsen für eine Leser:innenschaft aus Studierenden und der interessierten Allgemeinheit geschrieben. Die sehr zugängliche Sprache und die Erläuterung der archäologischen Fachtermini sind hierfür hilfreich. Seit der ersten Publikation von 2004 wurde Samenes historie zu einem Standardtext für ältere sámische Geschichte: Durch die zweite, aktualisierte Ausgabe wird dieser Status nochmals untermauert und um aktuelle Literaturhinweise erweitert. Kontinuitäten und Brüche der sámischen Geschichte werden anhand der verfügbaren Quellen klar herausgearbeitet und vielen Vorurteilen und Irrtümern, die zu Beginn der 2000er-Jahre verbreitet waren und teilweise weiter existieren, wird sachlich entgegengetreten. Die produktive Arbeit mit historischen Dynamiken und Komplexitäten, insbesondere in der Entwicklung einer sámischen Ethnizität und ihre Beeinflussung durch innere und äußere Faktoren, ist eine der stärksten Eigenschaften des Bandes. Hansen und Olsen argumentieren sowohl gegen Stereotypen einer homogenen, statischen Kultur als auch des Verfalls einer „traditionellen“ Kultur durch externen Druck. Die Zusammentragung der bestehenden historischen und archäologischen Forschung und die Einbettung der sámischen Geschichte als natürlicher Bestandteil in eine nordische und europäische Historiografie kann daher nur als gelungen bezeichnet werden.

Anmerkungen:
1 Siehe auch Paul Kirschstein: Rezension zu: Astri Andresen / Bjørg Evjen / Teemu Ryymin (Hrsg.), Samenes historie fra 1751 til 2010, Oslo 2021, in: H-Soz-Kult, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97292, 10.01.2023.
2 Die erste Ausgabe von Samenes historie wurde bereits ins Schwedische und als gekürzte Fassung ins Englische übersetzt und ist somit einem breiteren Kreis von Leser:innen zugänglich: Lars Ivar Hansen; Bjørnar Olsen, Samernas historia fram till 1750, Stockholm 2006; Lars Ivar Hansen / Bjørnar Olsen, Hunters in Transition. An Outline of Early Sámi History (=The Northern World, 63), Leiden 2014.
3 Die Rezension verwendet die Selbstbezeichnung „Sámi“ anstelle der im Deutschen üblichen Schreibweise „Samen“. In historischen Quellen werden jedoch meistens Fremdbezeichnungen verwendet, v.a. Finnen, Skriðfinnen oder Lappen.